2021

Digitaler Raum, 23. Februar 2021

Sprachliche Grenzziehungspraktiken

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Grenzen erlauben Orientierung. Sie strukturieren Räume ebenso wie komplexe Lebenswirklichkeiten: etwa, wenn Raum durch „soziale Prozesse“ organisiert wird (Redepenning 2018: 21), wenn sich neue Grenzziehungen im Gebrauch digitaler Medien etablieren (Hepp et al. 2014) oder sprachliche Varietäten als Hinweis auf Gruppenzugehörigkeiten interpretiert werden (Kallmeyer 2010: 597f.). Grenzen zerlegen Räume in „übersichtlichere Sinneinheiten“ (Öztürk 2014: 1) und ermöglichen dadurch Handlungsspielräume, sei es territorial, individuell, sozial oder kulturell. Sie sind aber keine natürlichen Gegebenheiten, sondern Konstrukte, die der Praktizierung bedürfen (Kleinschmidt 2011). Grenzen sind nicht nur Demarkationslinien zwischen zwei Entitäten (ebd.), sondern sie existieren ebenso durch die grundsätzliche Möglichkeit der Grenzüberschreitung (Foucault 1963). Sie sind Aushandlungsprozessen unterworfen, in denen um ihre Gültigkeit gerungen wird oder Grenzen verwischt, verschoben sowie verstärkt werden können. Damit sind sie immer auch einer Analyse kommunikativer und sprachlicher Praktiken zugänglich. Aufrechterhaltung und Übertretung von Grenzen sind also zentrale (auch semiotische) Praktiken, die die Grenze(n) gleichfalls als emergentes und wandelbares, mitunter auch als unscharfes Phänomen hervorbringen.

In territorialer Hinsicht finden sich beispielsweise Kennzeichnungen, die Räume strukturieren, wie Staatsgrenzen, Grundstücksgrenzen oder infrastrukturelle Raumordnungen (Heintel et al. 2018). Auf individueller Ebene verlaufen Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, die in mediatisierter Kommunikation Abgrenzungskompetenzen erfordern (Hepp et al. 2014). Auch Grenzen zwischen Individuen werden durch Kommunikationspraktiken hervorgebracht und gekennzeichnet sowie in das Sprachhandeln einbezogen (sprachliche Höflichkeit (z.B. Thaler 2012), Verortung (Roth 2018)). Kulturelle und soziale Grenzen sind hingegen stark mit Gruppenidentitäten und Gruppenzugehörigkeiten verknüpft, die u.a. in der Soziolinguistik untersucht werden. Sowohl individuelle wie auch Gruppengrenzen sind in der Interaktionslinguistik und Metapragmatik Thema (z.B. soziale Positionierung). Darüber hinaus gibt es Grenzen des Sagbaren (und Zeigbaren), wie Tabusysteme (z.B. bei den Themen Sex, Gewalt oder Tod). Auch Wissensgrenzen können den (Spiel-)Raum des Sagbaren (und Denkbaren) einschränken. Die heterogenen Kommunikationsräume einer Sprachgemeinschaft werden allerdings andersherum als strukturierte Räume sprachlich konzeptualisiert, wie nicht nur zahlreiche Raummetaphern der Sprachwissenschaft, sondern auch des alltäglichen Sprachgebrauchs zeigen. Diese Einsicht lädt zur Reflexion über Erscheinungsformen und Funktionen sprachlicher Grenzziehungspraktiken ein.

Diese Grenzziehungspraktiken konstituieren ein situations- und medienspezifisches Normverständnis, das den Handlungsraum der Individuen erweitert. Gleichzeitig sind dadurch aber die Handlungsräume schon vorstrukturiert. Kultur- und Sprachgrenzen bedingen sich dann gegenseitig. Auf der anderen Seite kann das Verwischen von Grenzen beobachtet werden (z.B. von Disziplinengrenzen, Raumgrenzen, Tabugrenzen), was neue Handlungsmuster in einem neuen Handlungsraum hervorbringt.

Die Tagung beschäftigt sich mit den heterogenen Formen der sprachlichen Grenzziehungs- und Grenzüberschreitungspraktiken, mit dem Umgang mit Grenzen und Grenzverschiebungen. Das Thema wurde bisher vor allem in den Sozialwissenschaften beachtet und legt für die Linguistik diverse Anschlussmöglichkeiten nahe. Ziel der Tagung ist daher, eine linguistische Grenzziehungspragmatik zu entwickeln, die es ermöglicht, sprachliche Umgangsweisen mit Grenzen zu systematisieren, auch unter Einbeziehung medialer Bedingungen. Die Ergebnisse sollen in einem Tagungsband zusammengetragen werden.

Gefragt sind methodisch heterogene Beiträge, die aus verschiedenen Teildisziplinen auf das Phänomen schauen, wie beispielsweise soziopragmatische, interaktionale und diskursanalytische Untersuchungen, sozio-, variations- und varietätenlinguistische Untersuchungen (insbesondere auch Linguistic-Landscape-Forschung), aber auch kognitionslinguistische und multimodale Analysen. Mögliche Untersuchungsgegenstände können u.a. sein:

  • Sprachliches Konstruieren von Grenzen
  • Grenzverschiebungen des Sagbaren in aktuellen Diskursen
  • Identitätsbildung durch Abgrenzungspraktiken
  • der Umgang mit Tabus (auch interkulturell)
  • Sprechen über Grenzen
  • semiotische Untersuchungen territorialer Grenzziehungen
  • Konzeptualisierungen von Grenzen und Grenzüberschreitungen
  • Wissensgrenzen und Wissen über Grenzen

Keynote: Konstanze Marx (Greifswald)

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