2023

Variationspragmatik

Universität zu Köln, 07. März 2023

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Natürliche Sprachen sind keine homogenen und statischen, sondern vielmehr heterogene und flexible Gebilde. Auf allen sprachlichen Ebenen existieren verschiedene (mitunter konkurrierende) Gebrauchsformen, deren Verwendung von außersprachlichen Parametern wie Raum, Zeit, soziale Gruppe oder Kommunikationssituation beeinflusst ist. Während die Ebenen der Phonetik/Phonologie, Orthografie, Lexik, Morphologie und Syntax aus variations- bzw. varietätenlinguistischer Perspektive intensiv erforscht werden, ist pragmatische Variation besonders innerhalb der germanistischen Linguistik „als Gegenstand zur Charakterisierung von Varietäten bisher nicht genügend berücksichtigt worden“ (Staffeldt 2013: 88). Anglistische und romanistische Studien zu „variational pragmatics“ (Barron/Schneider 2009) legen jedoch eindrücklich dar, dass es gewinnbringend ist, Phänomenbereiche der Pragmatik variationslinguistisch zu erforschen (Schneider 2005; Barron 2021; Félix-Brasdefer 2009; Lázaro Ruiz/Ramajo Cuesta 2015). Im Gegensatz zur Kontrastiven Pragmatik (Aijmer [ed.] 2011) adressiert die Variationspragmatik dabei nicht Unterschiede zwischen einzelnen Sprachen, sondern zwischen Varietäten innerhalb einer Sprache.

Gegenwärtig ist die variationspragmatische Forschung von bestimmten Schwerpunkten geprägt. Was die außersprachlichen Parameter anbelangt, stehen Studien zur diatopischen Variation im Mittelpunkt (Schneider/Barron [eds.] 2008; Dürscheid/Simon 2019); bezüglich der Beschreibungsebenen werden insbesondere pragmatische Marker (Murphy 2012; Aijmer 2013; Barron et al. 2015) und Sprechakte (Félix-Brasdefer 2008; García 2008; Bieswanger 2015; Staley 2018) thematisiert; die bislang am intensivsten erforschten Sprachen – wie oben angedeutet – sind das Englische und Spanische (Schneider 2021: 674–678). Forschungsdesiderate stellen mithin diastratische, diaphasische, diachrone und diamediale Zugänge zur pragmatischen Variation (des Deutschen) dar. Mit Blick auf das konkrete Beschreibungsphänomen sind zudem Untersuchungen zu weiteren pragmatischen Prinzipien und Phänomenen wie Höflichkeit, Deixis, Humor, Expressivität, Gesprächsorganisation oder Positionierung wünschenswert.

Wir nehmen die Jahrestagung 2023 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. zum Anlass, Variation pragmatisch zu betrachten. Gemeinsam möchten wir aktuelle Tendenzen und Herausforderungen der pragmatisch fokussierten Erforschung sprachlicher Variation diskutieren. Die Vorträge sollten dabei pragmatische Phänomene und verschiedene Varietäten kontrastiv beleuchten. Um einen Eindruck möglicher Themen zu vermitteln:

  • Deixis in verschiedenen Dialekten
  • Turn-Taking in Alltagsgesprächen versus in Gesprächen im Berufsleben
  • Beleidigungen in der gesprochenen versus in der geschriebenen Kommunikation
  • Gesprächsorganisation im Wandel
  • Facework unter Jugendlichen versus unter älteren Personen
  • Hochschulprüfungsgespräche in verschiedenen Fachwissenschaften
  • Expressivität in unterschiedlichen digitalen Schreibregistern
  • Pragmatische Variation in DaM/DaF/DaZ-Kontexten

Ziel der Tagung ist es, sowohl einen Einblick in die vielfältigen Objektbereiche und Anwendungsfelder der Variationspragmatik zu geben als auch Perspektiven für die weitere Forschung aufzuzeigen. Erwünscht sind Vortragsvorschläge, die einen Beitrag zur empirischen Untersuchung pragmatischer Variation sowie zur Methodologie- und Theoriebildung der Variationspragmatik leisten. Fallstudien zu ausgewählten pragmatischen Phänomenen und Varietäten sind dabei ebenso gefragt wie stärker theoretisch und/oder methodologisch aus-gerichtete Ansätze. Willkommen sind Analysen zu Phänomenen der Pragmatik im engeren Sinne (z. B. Sprechakte) wie auch Arbeiten aus dem Feld der Pragmatik im weiteren Sinne (z. B. Interaktionale Linguistik, Text[sorten]linguistik, Internetlinguistik). Neben Studien zu den Varietäten des Deutschen freuen wir uns auch auf Beiträge zu Varietäten anderer Sprachen.

Sprachhandeln begegnet uns stets in multimodalen Formen (Jewitt 2016): Sowohl Gespräche als auch Texte sind keinesfalls monomodale Kommunikationsanlässe und -angebote, son-dern werden in Gestalt multimodaler Praktiken und Artefakte wahrnehmbar. Neben Sprache tragen Ausdrucksmodalitäten wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und -bewegung, Stimme, also ganz grundsätzlich Körperlichkeit (Deppermann 2015) sowie Schriftbildlichkeit, Bilder, Emojis und mehr (Stöckl et al. 2020) wesentlich zur Bedeutungsentfaltung im Kontext (Wild-feuer et al. 2019) bei. Zunehmend bestimmt die Untersuchung multimodaler Kommunikati-onspraktiken – auch infolge der visuellen Wende innerhalb der Linguistik – die sprachwissen-schaftliche Forschungslandschaft. In dem Zusammenhang können wir in den letzten Jahren beobachten, wie sich linguistische (teilweise überlappende) Subdisziplinen herausbilden, deren theoretisch-methodologischer Apparat dezidiert auf multimodale Kommunikations-formate ausgerichtet ist: etwa die multimodale Interaktionsanalyse (Norris 2004; Depper-mann 2018; Stukenbrock 2021), die multimodale Text- und Diskursanalyse (Klug 2016; Meier 2016), die multimodale Kognitionslinguistik (Zima/Brône 2015; Spieß 2016) sowie die multi-modale Grammatikforschung (Fricke 2012; Schoonjans 2018), die angesichts ihrer starken Fokussierung auf Gesten interaktionslinguistischen Arbeiten sehr nahe steht. Aus Sicht der linguistischen Pragmatik stellt sich die Frage, welchen Platz pragmatische Themen, Theorien und Analysegegenstände innerhalb dieser Entwicklung einnehmen. Wir möchten die Jahres-tagung 2022 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. daher zum Anlass nehmen, das Verhältnis von Pragmatik- und Multimodalitätsforschung zu beleuchten und Bestim-mungsstücke einer multimodalen Pragmatik (O’Halloran et al. 2014) zusammenzutragen.
Motiviert ist dieses Anliegen nicht zuletzt von einer Vielzahl an „neuen“ multimodalen Daten, die im Zuge des Technologiefortschritts der letzten Jahre entstanden sind. Die pragmatische Analyse von WhatsApp-Kommunikation, Zoom-Mitschnitten, Internet-Memes, Instagram Stories oder Videobeiträgen auf TikTok eröffnet spannende Einsichten in die multimodale Konstitution zentraler pragmatischer Phänomene wie Humor, Expressivität, Deixis, Höflich-keit oder Positionierung. Aber auch Interaktionsformate in Offline-Settings oder verschiede-ne Erscheinungsformen urbaner Schriftlichkeit (öffentliche Betextungen, Graffiti, Kreide-Proteste usw.) lassen es plausibel bis notwendig erscheinen, die multimodale Gestalt von Kommunikation aus einer pragmalinguistischen Perspektive zu beleuchten. Welche kommu-nikativen Ressourcen sind hier wiederkehrend im (kookkurrierenden) Gebrauch, um Bedeu-tungsangebote im Kontext zu unterbreiten, welche multimodalen Verfestigungen können wir beobachten? Wie wirken die verschiedenen Ausdrucksmodalitäten zusammen? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Multimodalität, Materialität und Leiblichkeit bzw. embodiment (Stre-eck et al. 2011) unter pragmatischen Gesichtspunkten? Welche methodologisch-methodischen sowie theoretischen Implikationen ergeben sich für eine multimodale Pragma-tik?
Gemeinsam möchten wir aktuelle Tendenzen und Herausforderungen der pragmatisch fo-kussierten Erforschung multimodaler Kommunikation diskutieren. Das Hauptaugenmerk der Tagung soll auf empirisch ausgerichteten Beiträgen liegen: Wie gestalten sich die Erhebung, Aufbereitung und pragmatische Analyse der multimodalen Daten? Welche (methodischen) Herausforderungen ergeben sich? Auf welchen theoretischen Prämissen fußt die Analyse, wie verhalten sich diese Vorannahmen zu etablierten Konzepten der Pragmatik? Welche Er-kenntnisse als Bestimmungsstücke einer multimodalen Pragmatik können gewonnen wer-den? Willkommen sind dabei ebenso Beiträge aus benachbarten Disziplinen – etwa der In-teraktionslinguistik, der Gesprächslinguistik, der Konversationsanalyse, der Kognitionslinguis-tik, der Medienlinguistik und der (Konstruktions-)Grammatik. Auch Beiträge, die Anwen-dungsbezüge der multimodalen Pragmatikforschung – zum Beispiel in Sprachlehr- und Sprachlernkontexten – zum Thema machen, sind erwünscht.

Keynote: Anne Barron (Lüneburg)

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