2024

Genderpragmatik

Ruhr-Universität Bochum, 27. Februar 2024

Tagungsprogramm als pdf sowie die dazugehörigen Abstracts.

Genderkonstruktionen, Genderperformanzen wie auch das sprachliche Gendern stehen wiederkehrend im Mittelpunkt emotional geführter Debatten. Die mediale Aufmerksamkeit, die Gender(n) zukommt, ist groß; die Sichtbarkeit, die linguistischen Zugängen und Erkenntnissen in diesen öffentlichen Auseinandersetzungen zuteilwird, präsentiert sich hingegen als begrenzt (Diewald & Nübling 2022: 3). Verhältnismäßig eklektisch und selektiv kommen häufig – aber nicht ausschließlich – diejenigen zu Wort, die wenig sensibel für das konstruktive Potenzial von Sprache (Gardt 2018) und die Differenzierung verschiedener sprachlicher Register (Kotthoff 2020; Diewald & Steinhauer 2020) sind. Dabei liegen zum Zusammenhang von Sprache und Gender, zum Verhältnis von Gender, Sexus und Genus sowie zur Rezeption (vermeintlich) generischer Sprachressourcen zahlreiche (empirisch fundierte) Arbeiten vor (u.a. Günthner, Hüpper & Spieß [Hg.] 2012; Ferstl & Kaiser 2013; Diewald 2018; Kotthoff & Nübling 2018; Diewald & Nübling [Hg.] 2022). Neben stärker sprachsystematischen Studien zu Gender in Lexikon und Grammatik kann auch auf instruktive Beiträge zu Gender in (Sozio-)Pragmatik, Interaktion und Diskurs aufgebaut werden (u.a. Spreckels 2012; Kotthoff 2012; Schmidt-Jüngst 2020; Wolf 2022; Lind 2023; für den angloamerikanischen Raum Cameron 2005; Mullany 2010; Holmes & King 2017). Gerade die Zusammenführung dieser gebrauchsbasierten Perspektiven auf Gender birgt großes Potenzial, das Forschungsfeld einer auch für die interessierte Öffentlichkeit sichtbaren Genderpragmatik (neu) abzustecken. Diesem Anliegen möchten wir auf der Jahrestagung 2024 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. nachkommen, wobei wir dazu einladen, von einem non-binären offenen Begriff von Gender auszugehen.

Gender als eine soziale Kategorie wird (u.a. sprachlich) konstruiert und durch tradierte Praktiken des doing gender interaktiv hervorgebracht (Diewald & Nübling 2022: 4). Im Zuge dieser Identitätsentwürfe üben uns bekannte Genderrollen „stark normierende Kraft aus“ (Diewald & Nübling 2022: 5). Sie nehmen Einfluss auf das Enaktieren von Gender und können zugleich zum Reflexionsgegenstand – etwa in Diskussionen in den sozialen Medien – avancieren. Geschlechterunterscheidungen und -hierarchisierungen wirken – so die Annahme – auf pragmatische Konventionen und Muster. In diesem Zusammenhang kommt Gendern als geschlechtergerechte Sprache die Funktion eines Gleichstellungsinstruments zu (Diewald & Steinhauer 2020: 8). Eine umsichtige und innovative Genderpragmatik hat hierbei allerdings zu bedenken, dass einerseits Sprache häufig Teil einer multimodalen Performance (von Gender) ist und dass andererseits Gender lediglich einen Aspekt im Geflecht von (mitunter nicht trennscharfen Kategorien wie) Sexualität, Ethnizität, Diversität u.v.m. darstellt (u.a. Jones 2021). Gemeinsam möchten wir im Rahmen der ALP 2024 aktuellen Tendenzen, Möglichkeiten und Herausforderungen einer solchen Genderpragmatik nachgehen. Mögliche Schwerpunkte der empirisch ausgerichteten Beiträge, die sich an pragmatischen Theorien, Modellen und Herangehensweisen orientieren, können auf den folgenden Bereichen und Zusammenhängen liegen:

(Doing) Gender und Höflichkeit

(Doing) Gender und Sprechakte

Doing Gender multimodal

Doing Gender diachron

Praktiken des Undoing Gender

Doing Gender und Schule

Doing Gender in den sozialen Medien

Metakommunikation über Gender(n)

Sprachhandeln begegnet uns stets in multimodalen Formen (Jewitt 2016): Sowohl Gespräche als auch Texte sind keinesfalls monomodale Kommunikationsanlässe und -angebote, son-dern werden in Gestalt multimodaler Praktiken und Artefakte wahrnehmbar. Neben Sprache tragen Ausdrucksmodalitäten wie Gestik, Mimik, Körperhaltung und -bewegung, Stimme, also ganz grundsätzlich Körperlichkeit (Deppermann 2015) sowie Schriftbildlichkeit, Bilder, Emojis und mehr (Stöckl et al. 2020) wesentlich zur Bedeutungsentfaltung im Kontext (Wild-feuer et al. 2019) bei. Zunehmend bestimmt die Untersuchung multimodaler Kommunikati-onspraktiken – auch infolge der visuellen Wende innerhalb der Linguistik – die sprachwissen-schaftliche Forschungslandschaft. In dem Zusammenhang können wir in den letzten Jahren beobachten, wie sich linguistische (teilweise überlappende) Subdisziplinen herausbilden, deren theoretisch-methodologischer Apparat dezidiert auf multimodale Kommunikations-formate ausgerichtet ist: etwa die multimodale Interaktionsanalyse (Norris 2004; Depper-mann 2018; Stukenbrock 2021), die multimodale Text- und Diskursanalyse (Klug 2016; Meier 2016), die multimodale Kognitionslinguistik (Zima/Brône 2015; Spieß 2016) sowie die multi-modale Grammatikforschung (Fricke 2012; Schoonjans 2018), die angesichts ihrer starken Fokussierung auf Gesten interaktionslinguistischen Arbeiten sehr nahe steht. Aus Sicht der linguistischen Pragmatik stellt sich die Frage, welchen Platz pragmatische Themen, Theorien und Analysegegenstände innerhalb dieser Entwicklung einnehmen. Wir möchten die Jahres-tagung 2022 der Arbeitsgemeinschaft Linguistische Pragmatik e.V. daher zum Anlass nehmen, das Verhältnis von Pragmatik- und Multimodalitätsforschung zu beleuchten und Bestim-mungsstücke einer multimodalen Pragmatik (O’Halloran et al. 2014) zusammenzutragen.
Motiviert ist dieses Anliegen nicht zuletzt von einer Vielzahl an „neuen“ multimodalen Daten, die im Zuge des Technologiefortschritts der letzten Jahre entstanden sind. Die pragmatische Analyse von WhatsApp-Kommunikation, Zoom-Mitschnitten, Internet-Memes, Instagram Stories oder Videobeiträgen auf TikTok eröffnet spannende Einsichten in die multimodale Konstitution zentraler pragmatischer Phänomene wie Humor, Expressivität, Deixis, Höflich-keit oder Positionierung. Aber auch Interaktionsformate in Offline-Settings oder verschiede-ne Erscheinungsformen urbaner Schriftlichkeit (öffentliche Betextungen, Graffiti, Kreide-Proteste usw.) lassen es plausibel bis notwendig erscheinen, die multimodale Gestalt von Kommunikation aus einer pragmalinguistischen Perspektive zu beleuchten. Welche kommu-nikativen Ressourcen sind hier wiederkehrend im (kookkurrierenden) Gebrauch, um Bedeu-tungsangebote im Kontext zu unterbreiten, welche multimodalen Verfestigungen können wir beobachten? Wie wirken die verschiedenen Ausdrucksmodalitäten zusammen? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Multimodalität, Materialität und Leiblichkeit bzw. embodiment (Stre-eck et al. 2011) unter pragmatischen Gesichtspunkten? Welche methodologisch-methodischen sowie theoretischen Implikationen ergeben sich für eine multimodale Pragma-tik?
Gemeinsam möchten wir aktuelle Tendenzen und Herausforderungen der pragmatisch fo-kussierten Erforschung multimodaler Kommunikation diskutieren. Das Hauptaugenmerk der Tagung soll auf empirisch ausgerichteten Beiträgen liegen: Wie gestalten sich die Erhebung, Aufbereitung und pragmatische Analyse der multimodalen Daten? Welche (methodischen) Herausforderungen ergeben sich? Auf welchen theoretischen Prämissen fußt die Analyse, wie verhalten sich diese Vorannahmen zu etablierten Konzepten der Pragmatik? Welche Er-kenntnisse als Bestimmungsstücke einer multimodalen Pragmatik können gewonnen wer-den? Willkommen sind dabei ebenso Beiträge aus benachbarten Disziplinen – etwa der In-teraktionslinguistik, der Gesprächslinguistik, der Konversationsanalyse, der Kognitionslinguis-tik, der Medienlinguistik und der (Konstruktions-)Grammatik. Auch Beiträge, die Anwen-dungsbezüge der multimodalen Pragmatikforschung – zum Beispiel in Sprachlehr- und Sprachlernkontexten – zum Thema machen, sind erwünscht.

Keynote (die ebenfalls gestreamt wurde): Miriam Lind (Frankfurt an der Oder)

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